Wir wissen leider alle viel zu viel über Stress. Trotz aller (Er)Kenntnis erleben wir ihn immer wieder. Gehetzt im Privatleben, Zeitdruck und negatives Feedback im Arbeitsleben. Da braucht es niemanden, der noch kluge Ratschläge gibt.

Allerdings scheint es, als seinen doch ein paar Hinweise angebracht, denn der meiste Stress im Arbeitsleben entsteht nicht, weil wir zu blöd zum Arbeiten sind, sondern weil wir zu blöd zu sein scheinen, die Systeme, in denen wir arbeiten, so zu gestalten, dass Arbeit stressfreier wird. Oft sind es eher die Rahmenbedingungen, der Zugang zu Ressourcen oder mangelnde Transparenz, die zu schlechter Kommunikation, zu Druck und zu unklaren Entscheidungswegen führen.

Jetzt kommt sicherlich von einigen die „Ja, aber mein Chef“… als die Ursache allen Übels. Ja, es gibt Chefs, die so sind, es gibt echte, na(rr)zistische Ar……er darunter. Menschen, die dazu nicht geeignet sind und den Job dennoch machen (dürfen). Ja, richtig. Der einzige Tipp der hier hilft: man diese im Grunde nur verlassen, um ihnen zu entgehen.

Aber es gibt die Masse der anderen Führungskräfte, die sich durch das/die Systeme, in denen sie agieren (müssen) selbst so gestresst fühlen, dass sie nicht besser damit umzugehen wissen, als diesen Stress einfach weiterzugeben.

Der Stress, der von diesen ausgeht, resultiert aber aus einer Schwäche des Systems, die man angehen und abstellen kann. Man muss es nur als solche erkennen und angehen.

Dazu dann gleich ein paar Empfehlungen.

Hormoneller Giftcocktail

Wie Stress wirkt, muss ich hier kaum beschreiben. Nicht anders als vor tausenden Jahren, als wilde Tiere oder Kampf Stress auslösten, schießen u.a. Adrenalin und Cortisol in unsere Blutbahn. Flucht- und Kampfinstinkte erhalten freien Lauf, wir sind extrem fokussiert und schalten die Bereiche des Gehirns weg, die zum Denken zu lange brauchen würden. Dafür erhalten unsere Muskeln maximale Energien, zugleich werden Schmerzreize unterdrückt. Wir können kämpfen bis zum umfallen – aber nicht darüber nachdenken, welche anderen Optionen wir haben. Bei akutem Stress sind Magen, Darm und alles, was uns bremsen könnte, außer Funktion. Das geht hin, bis zu einem abgeschwächten Immunsystem und einer im Gegenzug besseren Blutgerinnung. Die Hormone steuern uns. Hormone, die man am besten durch körperliche Aktivität abbaut. Körperliche Aktivität, die wir am Arbeitsplatz meist nicht haben. So bleibt vor allem Cortisol länger im Körper und baut nach und nach einen inneren Zustand von Dauerstress auf.

Stress, der immer individuelle Auswirkungen hat, aber durch die Organisation (unserer Arbeit) system(at)isch getriggert ist und sich dort allerdings fast nie sinnvoll abbauen lässt.

Ein Zustand, den Unternehmen ernst nehmen sollten, denn er kostet Zeit, Geld und reduziert (in zu hohem Maß) die Leistungsfähigkeit der Mitarbeitenden.
Problematisch ist, dass ein bisschen Stress durchaus hilfreich und gut sein kann. Ein (individuell) zu hoher Stresspegel ist es nicht.

Ein „Stress-deep-dive“ 

Um den Ursachen näherzukommen lohnt es, ein wenig tiefer ins Thema Stress einzusteigen, denn erstaunlich viel davon ließe sich bereits am grünen Tisch eliminieren. Der erste Punkt ist sicherlich, sich die Stressoren bewusst zu machen, denn der berühmt-berüchtigte Säbelzahntiger ist erstaunlicherweise heute in Unternehmen kaum noch präsent. Dafür erleben wir zu oft Dinge wie: Überlastung, inhaltliche Überforderung, Zeitdruck, häufige Arbeitsunterbrechungen, schlechte Arbeitsorganisation in Form von schlecht funktionierenden Prozessen und ungeeigneten Strukturen, sinnbefreite Zeitfresser-Meetings,  Intransparenz, Konflikte, Lärm, einseitige körperliche Belastungen, Unfairness, manchmal auch illegitime Tätigkeiten u.v.a.m.

Vieles davon ist dabei nicht auf das individuelle Arbeitsverhalten und den verinnerlichten Arbeitsethos zurückzuführen. Die Masse dieser Stressoren könnte relativ leicht von denjenigen aufgelöst werden, die das Betriebsmodell der Organisation definiert, das Organisationsdesign entworfen und den organisationalen (Anpassungs-)Fähigkeiten Raum (bzw. zu oft leider zu wenig Raum) gegeben haben.

Weil ich es für so wichtig halte, hier ein paar mehr Details zu diesem Thema, zu dem ich aktuell die 6-teilige Artikelreihe von @Alec Leverson und @Dr. Johanna Anzengruber über „Organization Capability“ nur empfehlen kann.

Drei grundlegende Elemente jeder Organisation: das ‚Betriebsmodell‘, das ‚Organisationsdesign‘ und die ‚Organisationale Fertigkeiten‘ sind unter anderem in hohem Maß entscheidend dafür, wie viel generelles Stresspotenzial eine Organisation in sich trägt.

Das Betriebsmodell definiert konzeptionell, wie Ressourcen genutzt, Prozesse und Strukturen angelegt werden, um die grundlegende Zielsetzung, die Intention des Unternehmens umzusetzen. Es beschreibt, wie das Unternehmen organisiert, koordiniert und ausgerichtet ist, um die Mission und Strategie zu erfüllen. Sie bildet die Grobstruktur des Unternehmens und gibt Leitlinien vor.
Es bestimmt damit, ob das Unternehmen ein eher modernes Regelwerk nutzt oder nach den guten alten, traditionellen (und *Ironie ein* früher immer richtigen *Ironie aus* 😉 Prinzipien und Parametern funktioniert.

Das Design der Organisation grenzt ab, wie sie strukturiert ist, einschließlich der Rollen, Verantwortlichkeiten, Berichtslinien und anderer formaler Beziehungen. Es legt die Hierarchie, die Prozesse, die Arbeitsteilung und die Koordinationsmechanismen fest, einschließlich der Differenzierungen zu und von Funktionen und Teams.

Die Fähigkeiten/Fertigkeiten/Möglichkeiten/Kompetenzen der Organisation (Organizational Capabilities) erlauben ihr, Leistung zu erbringen und auf Veränderungen zu reagieren. Sie helfen Abläufe, Prozesse, (Entscheidungs-)Wege und Kommunikation zu optimieren. Da die Anforderungen an diese Optimierung sich stetig verändern können, führen sie (idealerweise) zu einem sich stetig anpassenden und verbessernden Organisationsdesign und Betriebsmodell. Sie sind Inhalt und Ergebnis der Ausführungs- und Lernphase der Organisation. Betriebsmodell und Organisationsdesign sind also eher wie eine Reihe von Richtlinien oder Leitplanken zu behandeln, die eine beträchtliche Flexibilität zulassen sollten statt als statische Pläne und Fakten.

Wie daraus Stress entsteht? Ganz einfach, indem diese drei auf sich aufbauenden Teile als relativ statisch angesehen werden. Doch in einem System, das nicht nur äußeren, sondern auch inneren Einflüssen unterliegt, durch neue Mitarbeiter, neue Anforderungen der Kunden, veränderte Ziele und Aufgabenteilung etwa, kann und darf nichts statisch sein. Wird die Arbeit, die dieses System leisten soll, dennoch so gehandhabt, bleiben Prozesse, Strukturen und Entscheidungswege unverändert, entstehen Konflikte und Stress in der und durch die Organisation, die sich auf alle auswirken.

Ist man sich dieses Spannungsfelds bewusst, ist es leicht für die Organisation Stress systemisch und strukturell zu vermeiden. Der Schlüssel ist das Verständnis für die Anpassungsfähigkeit und -notwendigkeit von Management Design (als Oberbegriff für die drei genannten Elemente) und von Feedbackloops, die den Veränderungsbedarf kanalisieren und konstruktiv nutzbar machen. Ziel ist dabei alle drei Grundpfeiler der Organisation aufeinander abgestimmt und kontinuierlich weiter zu optimieren, um sie einer sich verändernden Um- und Innenwelt anzupassen. Wobei sich die Notwendigkeit zur Kontinuität allein schon dadurch ergibt, dass die drei Elemente sich gegenseitig beeinflussen. So führt die Weiterentwicklung bei einem Element fast automatisch zu Anpassungsbedarf bei einem anderen. Es entsteht ein (klassisch) iterativer Prozess der Verbesserung. 

Spannend ist, dass Unternehmen mit relativ modernen Managementmodellen scheinbar weniger organisational verankerten Stress erzeugen. Das workLIFE Barometer 2023 zeigt hier bei allen hierfür relevanten Fragestellungen deutliche Vorteile gegenüber traditionell agierenden Unternehmen.

So, und nur? Was kann ich tun?

Da die Auslöser für Stress also in zwei Lagern zu suchen sind, beim Individuum und seiner Reaktion auf Belastungen und bei der Organisation selbst, sollte man sie immer auch von beiden Seiten aus angehen. 

Dabei ist es wichtig, sowohl die individuellen Wahrnehmungen und Erfahrungen, als auch die organisationalen Rahmenbedingungen, Annahmen und die Arbeitskultur zu betrachten, wenn man negativ wirkenden Stress minimieren will.

Wie so oft bietet eine bewusste Beobachtung einen guten Einstiegspunkt. Relevante Reflektionsfragen dazu sind auf der individuellen Ebene etwa:

– Wie gehst du damit um, wenn du gestresst bist? Welche Maßnahmen/Mechanismen kennst du, um vorhandenen Stress (Hormonbelastung, psychische Belastung) abzubauen? Welche Freiräume brauchst du dafür?

Oder zum tieferen Einstieg:

  • Woran erkennst du, dass du gestresst bist?
  • Was muss geschehen, damit du dich gestresst fühlst?
  • Was muss geschehen, damit du dich nicht gestresst fühlst?
  • Was muss geschehen, damit du rechtzeitig aus Situationen aussteigst, von denen du weißt, dass sich dich stressen?
  • Begibst du dich bewusst in Situationen, in denen du negativen Stress empfindest? Warum? Wann passiert das? Wie passiert das?
  • Wie geht dein Umfeld damit um, wenn du erkennst, dass du gestresst bist?
  • Woran erkennst du selbst, dass du gestresst bist?
  • Wie viel Stress tut dir gut?
  • Welche Indikatoren weisen früh (genug) darauf hin?
  • Wie beugst du vor, um nicht in Situationen zu kommen, in denen du übermäßigen Stress empfindest? Wie kann dein Umfeld dir dabei helfen?

Auf der organisationalen Ebene sind zwei geeignete Fragestellungen:

  • Mit welchen Maßnahmen, Strukturen, Zielen und Routinen erzeugt die Organisation bei ihren Mitarbeitenden übermäßigen negativen Stress?
  • Welche Ressourcen und Möglichkeiten stehen den Mitarbeitenden zur Verfügung, um mit ihrem individuellen Stress besser um zugehen, ihn abzubauen oder ihn zu vermeiden?

Allerdings reichen diese nicht aus, um den Themen wirklich auf den Grund zu gehen. Wer dies will, muss tiefer einsteigen und damit starten, die Zusammenhänge umfassender verstehen zu wollen. Oftmals für viele, auch erfahrene Manager ein Augenöffner. Wie das geht, erläutere ich gerne im Einzelgespräch – dafür fehlt hier einfach der Raum.

Die Ansätze, um individuell gegenzusteuern kennen viele. Sie drehen sich um das eigene Selbstverständnis und eine gesunde Lebensweise zum Ausgleich der hormonellen Auswirkungen von Stress. Klassiker sind ein bewussteres und effektives Zeitmanagement, die Schaffung von Raum für regelmäßige kurze Pausen, tägliche Achtsamkeitsübungen und Meditation, eine offenere Kommunikation mit Vorgesetzten und Kollegen über Arbeitslast, Herausforderungen und Bedürfnisse, mehr körperliche Aktivität, eine ausgewogene Ernährung und natürlich Entspannungstechniken wie Atemübungen oder progressive Muskelentspannung.

Und auch auf Seite der Organisation gibt es Klassiker, die immer wieder empfohlen werden, wie etwa die Möglichkeit, flexible Arbeitszeiten zu nutzen, die Option, von zu Hause aus zu arbeiten, eine offene und transparente Kommunikation, die Bereitstellung von Möglichkeiten für sportliche Aktivitäten oder Fitnesskurse, die Förderung der mentalen Gesundheit, eine klare und realistische Aufgabenverteilung, mehr Anerkennung und Lob für gute Arbeit, eine unterstützende und kooperative Teamkultur.
Alles Themen, die viele Unternehmen nutzen, und dennoch ist der Stress weiterhin (fast) allgegenwärtig.

Alles gut, doch alles auch nur geeignet, um die Symptome zu lindern. 

Wie viel wirksamer wäre es, an den Ursachen zu arbeiten und der Falle zu entkommen?!