Als Henrik Zaborowski zusammen mit Winfried Felser zur einer „NextRecruiting“ Blogparade aufrief, bin ich zunächst davon ausgegangen, dass es sich nicht lohnt über eine Teilnahme nachzudenken. Zu weit weg ist mein „Management- und Organisationsjedööns“ vom Expertenthema Recruiting. Dann aber kam der Gesamtsystembetrachter in mir wieder durch und schnell stand mein Entschluss fest, doch zu versuchen eine vielleicht neue, andere, vielleicht etwas weiter gefasste Perspektive einzubringen. Damit ist dieser Blogpost mein Beitrag zu #nextrecruiting17 geworden. Soviel zur „Geschichte“.
 
In Henriks Zusammenfassung der Recruiting-Events der letzten Wochen tauchten erstaunlich wenige  Buzzwords auf, die sich auch in meiner Arbeit finden. Einzig „Persönlichkeit“ ist etwas, das bis in die Leader(ship)gestaltung vordringt. Da war kein Agil, da war keine Vision, nichts zu Strukturen, zur Identifikation mit Unternehmen, zu Stolz, zu Engagement, zu Begeisterung…. Allein ein ganz klein wenig „Mensch“ konnte ich in dem Text verorten – und meinen Tweet zu gesundem Menschengefühl in Ergänzung zu Henricks „gesunden Menschenverstand“ (diese Doppeldeutigkeit muss sein ;).
 
Personalbeschaffung heute, zumindest das, was davon bis zu mir durchdringt, erinnert mich nicht nur an die „Beschaffung schlechter Maschinen“. Mit dem (ich übertreibe bewusst) unreflektierten abarbeiten, unreflektierter Wunschlisten, unreflektierter Führungskräfte haben sich die Beteiligten (alle!) in einem unglaublichen Maß vom „echten Leben“ entfernt. Ich meine damit das echte Leben, dass dem Zusammenspiel vieler Faktoren besteht, aus kleinen Unzulänglichkeiten, aus verwobenen, multidiziplinären Anforderungen, aus Diskussionen und Reibungspunkten. Leben, wie es in sozialen Gemeinschaften normal ist, aber sich in Unternehmensstrukturen und der Abgrenzung in Stellenbeschreibungen nicht wiederfindet. Das dies heute so ist, verwundert allerdings wenig, denn viele Unternehmen agieren mit ihren Abteilungen, Silos und Planungsprozessen eben auch weit weg von diesem „echten Leben“.
 
Wir haben dieses Denken als lebendiges Relikt der Industrialisierung geerbt und es in Managementmodellen und -paradigmen, in der Bürokratie (der „Herrschaft durch Kontrolle“), der Meritokratie (Der „Herrschaft durch Belohnung, Aufstieg & Wissen“) bis heute bewahrt und tief verankert. So tief, dass wir sie, in einer Zeit, die die altbewährte Beschaffung von Humanressourcen auf den Kopf stellt und in der sich neue Organisationsmodelle ihren Weg bahnen, kaum mehr loswerden.
 
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Wirk(ungs)raum statt Arbeitsplatz 

Was wir gerade, alle gemeinsam, egal wo wir organisationsgestalterisch unterwegs sind, vor der Brust haben, ist eine der großen und diesmal wohl auch ganz schnellen Umwälzungen der Arbeitswelt. Die Idee statt durch Steuerung, Kontrolle und künstlicher Verknappung von Information, Unternehmen durch agiles, flexibles, schnelles „Wirkung erzeugen“ auszurichten, auf Transparenz und Miteinander statt gegeneinander zu setzen, verändert sich die Arbeitswelt in fast allen führenden Wirtschaftsnationen – weltweit. Teil dieser Veränderung ist ein neues Selbstverständnis der darin aktiv MitWirkenden, die mit dem Verständnis, dass sie richtig, richtig gute sind und daher auch wirklich, wirklich wertvoll sind, immer mehr beginnen sich als knappe Ressource, statt austauschbares Maschinenbedienteil zu sehen. Sie ahnen, dass die Zeit, in der Sie aussuchen können, was sie, wann, für wen machen und mit wem dies tun wollen begonnen hat.
 
Wo man früher über die Gestaltung von Arbeitsplätzen für die Mitarbeiter nachdachte wird man sich morgen mit dem Wirkungsraum der Kooperationspartner beschäftigen müssen. Wo heute nach Skills von Einzelpersonen gesucht wird, wird man morgen erstmal das Unternehmen selbst besser verstehen, besser, klarer positionieren müssen, bevor man sich mit ganzen Communities darüber austauscht wer bereit ist mitzuwirken. Communities, die sich finden, weil sie gleiches wollen, die gleichen Ideen haben, weil sie harmonieren und weil sie eben auch miteinander an interessanten, spannenden Dingen arbeiten möchten. Wahlfreiheit wird ihr Thema sein.
 
Wenn Sie jetzt fragen, wer denn den ganzen Rest macht, den Routinekram, die weniger interlektuellen Arbeiten. Die Frage wird sein, ob dies die autonomen, künstlichen „Communities“ sein werden. Werden es Menschen sein, so wird es auch hier um Passung gehen, um maximale WIrkung erzielen zu können. Passung im sozialen miteinander, Passung der Haltung, heterogene Passung der Skillsets, und eben auch Passung im Umfeld.
 
In einer anderen Ecke des Spektrums ruft man heute gerne nach Querdenkern, ohne sich klar zu sein, ob man die als Organisation überhaupt aushalten kann (Link). In einem NextRecruiting Szenario wird man nicht nur nach Querköpfen, sondern nach Quernetzen suchen, nach ganzen Netzwerken in denen nach links, rechts,, oben und unten, in denen vor- und nachgedacht wird um auf das unbekannte, was da kommen mag reagieren zu können.
 

Die Quadratur des Kreises

Vor „Human Ressources“ und dem Recruiting steht eine der schwierigsten und herausfordernsten Aufgaben, die es in zukünftigen Unternehmen zu bewerkstelligen gibt. All jede, die sich mit Menschen befassen, die Menschen in ihrem Wachstum unterstützen wollen, die Menschen finden sollen um neue Aufgaben, neue Produkte, neue Themen zu bearbeiten, werden nichts weniger tun müssen, als ihre eigene und eine gemeinsame Quadratur des Kreises zu finden.
 
Sie werden nicht nur für schnell verändernde Aufgabenstellungen geeignete Kompetenzträger identifizieren und engagieren müssen. Sie werden die Zukunft ahnen und in die Gegenwart tragen müssen. Sie werden Menschen für Unternehmen begeistern müssen, sie in Netzwerken um das Unternehmen scharen, von denen Sie nicht wissen, ob, wann und wofür sie möglicherweise eingesetzt werden. Sie werden insbesondere auch, vielleicht als einzige, die Gesamtzusammenhänge im Unternehmen vollständig durchdringen, die Systemiken erkennen, die Strukturen verstehen und diese mit den besten Menschen für den Job in diesem Moment füllen müssen.
 
Sie werden diese Netzwerke aufbauen, die jeweiligen Zielrichtungen mit der des Unternehmens abgleichen, die Überlappungsbereiche erkennen und gestalten können müssen. Sie werden sich darauf einlassen müssen Haltung und Persönlichkeitsmerkmale*) zu erkennen, zu verstehen und an der richtigen Stelle einzusetzen. Sie müssen die Bedingungen für langfristige soziale Bindungen schaffen. Sie müssen fluide Organisationen gestalten, statt starre FTE Rahmen zu füllen.
 
Denn am Ende sind Sie es, die der Vision, der Zielsetzung des Unternehmens Leben geben. Leben in Form von lebendigen Mitwirkenden, von Menschen die einen Platz gefunden haben, an dem sie sich für ein bestimmtes Thema, für eine bestimmte Zeit einbringen wollen, um so unter anderem die Lebensfähigkeit des Unternehmens nachhaltig zu erhöhen.
 
Das klingt zu groß, um es alleine hinzubekommen?! Ist es auch!
Das ist eine Aufgabe, die ein Recruiter alleine nicht stemmen kann, genauso wenig, wie die eine Recruiting Abteilung der einen Unternehmen. Es ist eine Aufgabe in der sich auch die Recruiter über die Grenzen der Unternehmen und Branchen hinweg vernetzen und kooperieren müssen.
 

Das neue Mindset kommt nicht von selbst

Der allererste Schritt ist dabei die Vermessung der eigenen Welt, d.h. sowohl der „Personalwelt“ und der Unternehmenswelt. Welche Haltungen, welche Fähigkeiten, welche Ansätze sind da, was wird – mit Blick auf die Netzwerkorganisationen und Organisationsnetzwerke der Zukunft – gebraucht? Wo steht das Unternehmen? Welche Hemmnisse, Störungen aber auch Potenziale und Haltungen gibt es hier? Welches Denkmodell liegt der Zusammenarbeit zugrunde?
 
HR und Recruiting der Zukunft ist die Zukunft der Unternehmen. Sie sind die Gestalter, nicht der Produkte, aber der viel wichtigeren Grundlagen dazu: der kreativen Köpfe genauso, wie der Abarbeiter, der Kommunikatoren und vor allem eben der funktionierenden Netzwerke.
 
Um dahin zu kommen müssen Recruiter am schwächsten Glied der Kette beginnen. Bei sich selbst, bei ihrem Selbstverständnis, bei ihrer eigenen Haltung, ihrem Menschenbild, ihren Erwartungen und Anforderungen an sich, an die Kollegen im Unternehmen und an die Mitglieder der neuen temporären oder dauerhaften Kooperationsnetzwerke.
 
Das NextRecruiting wird damit vielschichtig sein, es wird nach Passung in Bezug auf Zielsetzungen, auf soziales Miteinander, auf handfeste Fähigkeiten suchen, auf individueller Ebene, in Netzwerken und mit Kooperationspartner aller Art.
 
Um diesen hohen Anspruch erfüllen zu können, muss NextRecruiting die gegenwärtigen und zukünftigen Modelle des Zusammenwirkens, der Management- und Organisationsstrukturen verstehen und wird sie mitgestalten. NextRecruiting wird Netzwerkgestalter, Visionsvermittler, und Persönlichkeitserkenner sein müssen. In dieser Funktion wird NextRecruiting ganz wesentlich und dennoch nur mittelbar den Erfolg der Unternehmen verantworten. In 5 oder 10 Jahren deutlich mehr als heute vorstellbar.
 
*) Zu dem Thema lohnt ein Blick in den Harvard Business Manager, Ausgabe Juni 2017, Seite 30-35, ein Interview mit Helen Fisher, „Jeder Mensch ist flexibel – bis zu einem gewissen Grad“