Vertrauen ist gut und richtig, oder? Und wir sollten, gerade bei der Arbeit, unseren Kollegen und Chefs blind vertrauen können, oder? Und Mitarbeiter? Na ja, wer mit Menschen Verträge dazu abschließt, dass sie ihre Arbeit (gut) machen, der sollte ihnen bei der Erfüllung dieser Aufgaben ebenso vertrauen (können), oder?!?

Und doch gibt es so ziemlich allen Organisationen, die ich kenne, etwas, dass ich Vertrauensgefälle nenne. Ein Gefälle zwischen dem Vertrauen, das seitens des Systems, der Strukturen und Prozesse den unterschiedlichen Menschen in Ihren Rollen und (hierarchischen) Positionen (fast) automatisch entgegengebracht wird. In klassischen Organisationsstrukturen darf „der oben“ halt mehr tun, entscheiden, verantworten, als der „unten“. Womit die Menschen, die ganz aktiv in den wertschöpfenden Prozessen arbeiten, häufig am wenigsten Einfluss darauf haben, wie und was sie tun. Ihnen wird oftmals am wenigsten Information zugestanden und Vertrauen entgegen gebracht. Das wirkt sich gerade in Krisenzeiten besonders aus. Es schränkt die Leistungsbefähigung (und damit auch die -bereitschaft) ein und verschlechtert zudem die Akzeptanz und den Ruf der Organisation bei der Suche neuer Mitarbeiter.

Dieses Gefälle steht dabei nicht alleine. Es tritt immer kombiniert mit Transparenz- und Entscheidungsgefällen auf. Immer wird einigen mehr vertraut, mehr Transparenz ermöglicht und mehr Entscheidungen zugestanden als den meisten anderen. Und ebenso gibt es das andere Ende dieser Kette, also die Kollegen und Kolleginnen, denen kein Vertrauen entgegengebracht, Transparenz zugestanden und Entscheidungen erlaubt werden.

Diese Struktur zieht sich durch alle Teams, alle Abteilungen, alle Bereiche. Zumindest war es bislang so. Nur, und diese Frage sollten sich alle stellen, die über die Struktur und Relevanz dieses Gefälles mit entscheiden können: Ist es für die Zukunft weiterhin hilfreich, damit so umzugehen, oder sollten wir versuchen, die Gefälle zu verändern, wo möglich vielleicht sogar abzuflachen oder, aber das wird selten tatsächlich vollumfänglich möglich sein, es aufzuheben?

Aus individueller Sicht wird das Thema bedeutsam, wenn man an den Auf- und Abstieg in Organisationen denkt. Es ist wichtig, sich klarzumachen, auf welcher Ebene dieses Gefälles man aktuell und in Zukunft steht und stehen will, denn nicht zuletzt entscheiden die drei Bereiche Informationszugang/Transparenz, Vertrauen und Entscheidungskompetenz (fachlich und hierarchisch) mit darüber, wie es mit der Karriere weitergeht.

Und nicht zuletzt gibt es eine ganz ähnliche Struktur auch mit Blick nach außen. Da wird mit Kunden anderes verfahren, als mit Partnern oder mit Investoren. Welche Information wem, wann und in welchem Umfang zur Verfügung stehen, welches Vertrauen in diese Stakeholder gesteckt wird, ist massiv davon abhängig, in welcher Beziehung sie zur Organisation stehen. 

Ob also in Bezug auf die eigene Karriere oder die Zukunft der Organisation als Ganzes, ob mit Blick nach innen oder außen, immer geht es darum, das soziale Interaktionssystem genauer unter die Lupe zu nehmen und zu klären, was als zielführend für den Erfolg angesehen werden kann oder was gegebenenfalls die Nutzung der Potenziale einschränkt. Wie viel Gefälle in den einzelnen Bereichen ist als gut und richtig und wie viel ist bedenklich und vielleicht sogar gefährlich? Wie viel sorgt dafür, dass der Umgang mit den Werten des Unternehmens, moralischen wie finanziellen, Ressourcen wie auch Arbeitsergebnissen, so gehandhabt wird, dass die Organisation daraus den maximalen Nutzen ziehen kann? 

Die Gefälle sind abhängig von den Führungsstrukturen und dem Führungsverständnis, von den gemeinsam getragenen Annahmen, Erwartungen und Glaubenssätzen, die jeder von uns in sich trägt und die damit auch in den Organisationen immer vorhanden sind. Sie sind abhängig von gesetzlichen Vorgaben und dem Umgang mit Betriebsgeheimnissen. Sie sind abhängig davon, welche Erlebnisse und Ergebnisse die Menschen gemeinsam gemeistert haben, welche Erfahrungen sie teilen, welchen grundlegenden ethischen Standards sie folgen. Sie sind aber auch immer davon abhängig, was vorgelebt, goutiert und an Fehlverhalten geahndet wird. 

Sie entscheiden darüber, welche dynamischen Fähigkeiten eine Organisation entwickeln und für sich nutzen kann. Fähigkeiten, die in der Zukunft immer mehr an Bedeutung gewinnen werden. Die Unterschiede in der Wahrnehmung der Mitarbeitenden in Bezug darauf, wer was kann, weiß, darf, mit wem man offen reden und von wem man ehrliche Antworten erhalten kann, hat einen sehr schnell wachsenden Einfluss darauf, wie wandlungsfähig, dynamisch, komplexitätsrobust und damit auch menschenzentriert ein Unternehmen ist. Es entscheidet mit darüber, wie schnell Entscheidungen getroffen werden können, wie viel Agilität und New Work, wie viel remote work, Teamzusammenhalt, Verantwortungsakzeptanz und Kreativität möglich sind und eingebracht werden. Es entscheidet darüber, welche Art neuer Geschäftsmodelle fliegen und welche scheitern, weil ihnen die Unterstützung fehlt. 

So banal und normal es klingt, so logisch und verständlich es ist, dass diese Gefälle existieren, so wichtig ist es jedoch auch, sich immer wieder klarzumachen, welche Elemente davon in der Lage sind, das Unternehmen für die Zukunft zu beflügeln und welche davon, auf der anderen Seite, den Menschen die Flügel stutzt, sodass die ihr Engagement und ihre Fähigkeiten nicht einbringen können oder wollen. Sie entscheiden zu einem bedeutenden Teil mit darüber, welche neuen Ideen und Impulse, welchen Geschäftsideen und -modelle sich umsetzen lassen und welche nicht.

Diese Gefälle zu verändern, ist nicht trivial. Sie sind tief verankert in den expliziten und implizieren Regeln, im Umgang miteinander, in der Kommunikation und den Entscheidungsprozessen. Sie sind ein Teil der Struktur und der Organisation. 

Sie sind im Grunde nur ein Detail, aber ganz oft verändert gerade der Umgang mit solchen Details mehr, als große lautstarke Maßnahmen. Sie schaffen auf einer Ebene Raum für neue Perspektiven und neue Erfolge, die oft vernachlässigt wird. 

Gefälle sind meist tatsächlich selten vermeidbar. Sie aber zumindest so zu strukturieren, sie so auf die Geschäftsmodelle, das Organisationssystem und die Menschen auszurichten, dass letztere das Maß an Wahlfreiheit, Fokus und Selbstvertrauen besitzen, das sie benötigen, um sich gerne und engagiert einzubringen, ist es wesentlicher Schritt in Richtung Zukunftsfähigkeit jedes Unternehmens.

Zum Schluss noch ein paar eher generelle Lösungsansätze und natürlich können wir gemeinsam am konkreten Ansätzen arbeiten, die dann optimal zu Deiner Organisation passen.

Ein paar Reflexionsfragen mit Bezug auf Deine individuelle Situation und Karriere („das Gefälle ‚von unten‘ nivellieren“):

  • Was ist Deine angestrebte Rolle und der damit verbundene, bzw. erwünschte Vertrauensbedarf? Was brauchst Du, um optimal zu arbeiten? Welche Anforderungen an Dein Umfeld und die Organisation ergeben sich daraus?
  • Wie viel Vertrauen erwartest Du, wie vertrauenswürdig arbeitest Du selbst – ganz ehrlich? Wem lohnt es aufzuzeigen, dass das Vertrauen in Dich, Dein Team etc. sich positiv auszahlt? 
  • Bei wem nimmst Du selbst ein Vertrauensdefizit wahr? Wem kannst Du selbst nicht vertrauen und warum? Wie kannst Du das, ggf. auch mit Hilfe der Moderation durch eine:n Dritten, ansprechen?

Hier noch einige Reflexionsfragen bezüglich der organisationalen Perspektive:

  • Welche Erfordernisse in Bezug auf den Informationsfluss, Entscheidungsprozesse und Vertrauen lassen sich aus den Geschäftsmodellen und dem Geschäftszweck ableiten? Unterstützen die expliziten und impliziten Regeln und bewussten und unbewussten Annahmen der Organisation („des Systems“) diese Erfordernisse oder behindern sie diese ggf. sogar? (Das ist leider sehr häufig der Fall.)
  • Welche Erfordernisse richten die Mitarbeitenden an die Organisation, an Prozesse, Strukturen und Regeln, um ihre Arbeit optimal zu erledigen? Was davon kann die Organisation zulassen und institutionalisieren, was nicht?
  • Wie sind Vertrauen, Transparenz und Entscheidungsfindung in der Organisation geregelt? Was drückt das über das Vertrauen in die Mitarbeitenden aus?

Bei der Veränderung der Gefälle geht es natürlich immer auch um eine Veränderung der Kultur, der Ethik und Werte. Das diese sich nicht durch das Propagieren neuer Leitbilder bewegen lässt, ist jedem klar. Kultur und Werte bewegen sich nur, durch erlebbares Vorbild und eine gemeinsame und konsequente Arbeit an deren Weiterentwicklung. 

Denk einfach mal darüber nach. Besonders gespannt bin ich auf Dein Feedback zu der Frage, wie sehr das Gefälle in Deinem Unternehmen Euren Geschäftserfolg behindert oder unterstützt.  

Wer gemeinsam mit anderen über dieses oder ein anderes Thema im Kontext vom Wandel in Organisationen nachdenken möchte, dem sie noch einmal herzlichst das Augenhöhe Camp am 16. September 2022 in Hamburg empfohlen. (https://www.xing.com/events/augenhohecamp-hamburg-2022-3940477)

Wer meinen Gedanken und Impulsen zur Weiterentwicklung von Organisationen, zur Entwicklung von Führung langfristig folgen möchte, dem empfehle ich, meine Blognews zu abonnieren. Damit landet ein Hinweis auf neue Blogposts noch vor der Veröffentlichung auf den Social Media Plattformen in Deiner e-mail Inbox.