Gestern, am Ende des monatlichen AGILITYINSIGHT Webinars zum Thema „Der agile Paradigmenwechsel“ stellte eine Teilnehmerin uns teilnehmenden diagnostischen Mentoren, Lukas Michel, Günther Kopperger und mir, eine Frage auf, der ich noch ein bisschen rumkauen musste. Sie fragte ganz am Ende der Runde: „Was kostet Agilität?“.
Da wir drei immer wieder so tief in die Vorteilsargumentation einsteigen (müssen), brauchten wir einen kurzen Moment, um Antworten zu können. Natürlich ging es nicht um die Projektkosten für den Wandel oder die Zeit, sondern um die übrigen Dinge, die beim Wandel „auf der Strecke bleiben“. Anders ausgedrückt lautete die, wie ich finde, extrem spannende Frage: Welchen Kollateralschaden erzeugt Agilität?
Um es vorweg zu nahmen: Es sind nicht ‚üblichen Verdächtigen‘ Struktur, Sicherheit und Stabilität, die auf der Kostenseite stehen, wenn man an agile Arten der Zusammenarbeit etabliert. Einfach, weil „anders“ und „freier“ nicht bedeutet unstrukturiert zu sein, weil „gemeinsam“ und „selbstverantwortlich“ keine Synonyme für Unsicherheit sind und wohl nichts so sehr Stabilität verlangt, wie Agilität. Mein Beispiel ist hier immer ein Baum, der sich nur dann im Wind wiegen und beugen kann, wenn er fest verwurzelt steht. Ohne diesen Rahmen kippt er und schon ist alle Agilität und Flexibilität dahin.
Agilität zwischen Allheilmittel und Dünger
Agilität besitzt heute (zu) viele Aspekte einer Mode, fast bin ich geneigt hier auch Droge zu schreiben. So manch publizierte Ansatz liest sich wie ein Allheilmittel, das von der richtigen Person im richtigen Maß im Unternehmen vorgestellt und vorangebracht, für alle Bereiche und fast sofort geeignet ist, alle Probleme zu lösen. Einfach mal alle auf die neue Haltung einschwören, alles mögliche ausprobieren und schon kippt die Organisation von einem extrem (der Bürokratie) ins andere (der Adhocratie). Dass es dazwischen eine unglaubliche Zahl an Facetten gibt, dass jedes Unternehmen andere Anforderungen, andere Beteiligte und ein anderes Umfeld besitzt, scheint dabei als Basisinformation verloren gegangen zu sein.
In meiner Wahrnehmung ist Agilität eher ein Dünger, der es erlaubt die Dinge leichter, einfacher, schneller und zielgerichteter zu tun, allerdings nur, wenn er auf die Bodenbeschaffenheit (die Rahmenbedingungen) und die Pflanzen, die dort wachsen sollen, deren Bedarf an Nährstoffen (die Mitwirkenden, Strukturen, Prozesse und die Zielsetzung) abgestimmt ist. Nutzt man Dünger, der nicht zu den Gegebenheiten passt, so wachsen dort auch Pflanzen in einem Maß, die man dort nicht haben will.
Daher ist aus meiner Sicht einer der größten ‚Kostenfaktoren‘ die Bereitschaft und die Zeit, sich intensiv mit den Voraussetzungen und dem Status der Organisation auseinanderzusetzen. Das Umfeld zu betrachten, die daraus entsenden Anforderungen an die Organisation(seinheit), die Wege der Wertschöpfung zu analysieren und zu verstehen, das genutzte und das optimale (zukünftige) Managementmodell zu identifizieren, um dann zu entscheiden welche Ansätze und Modelle wann, von wem und wie, verändert werden sollten.
Diese Investition erfordert den Mut neue Perspektiven zuzulassen und sich auf neue Erfahrungen einzulassen, sie erfordert den Weitblick aktuelle und zukünftige Anforderungen zu erkennen, sie erfordert den Intellekt, sich mit den unterschiedlichen Modellen zu befassen, und die Empathie um diejenigen Ansätze zu erkennen, die für die eigene Orga funktionieren können. Es ist keine Aufgabe für ‚so nebenbei‘ oder eine, die (meiner Meinung nach) ‚nach unten‘ delegiert werden kann.
Dann erst, wenn dies alle bewusst und klar ist, kann man den Dünger (das geeignete Modell) und die Dosis und den Ort bestimmen, an denen man beginnt den Dünger einzubringen und damit die Rahmenbedingungen der Zusammenarbeit zu verändern.
Das bringt mich zum zweiten großen „Kostenblock“: Kommunikation. Wer eine Organisation verändern will, hat es mit Menschen zu tun, die, manche neugierig, andere misstrauisch, beobachten, was um sie herum passiert. Beginnt man agile Arbeitsweisen ein-, an- und umzusetzen, ohne zuvor das jeweilige Umfeld informiert zu haben, wird es schwierig, denn mit den Arbeitsweisen im Innern eines Teams oder eines Bereichs verändert sich auch deren Außenkommunikation an den Schnittstellen. Angefangen von Abhängigkeiten bei Entscheidungsprozessen bis hin zu der iterativen Entwicklungen der Ergebnisse muss allen, auch im Umfeld, klar sein, was, warum und wie „agil“ gearbeitet wird. Alles andere führt zu wachsendem Frust und Ablehnung auf allen Seiten.
Was noch auf der Strecke bleibt
Neben diesen beiden großen Punkten bin ich auf eine Menge „kleinerer“ Gewohnheiten und Denkmuster gekommen, die auf der Strecke bleiben, wenn in einer Organisation(seinheit) agiler und flexibler miteinander gearbeitet wird. Verabschieden muss man sich von Dingen wie strikt hierarchischen Entscheidungsprozessen, von Silodenken und jederzeitiger, direkter, (wieder) hierarchiebezogener Steuerungs- und Einflussmöglichkeit. Ebenso stehen Unklarheiten, „Need to know“ Kommunikation, „oben-unten“ Rollenverständnisse, und Beschäftigungsprozesse ohne signifikanten Einfluss auf die Wertschöpfung, z.B. in Form von diversen Reports für verschiedenste Gremien ohne inhaltlichen Zugewinn, auf der Verlustliste. Für manche kritisch mag es auch sein, wenn aufgrund flacherer Strukturen, die Aufstiegsmöglichkeiten wegbrechen und Entscheidungen auf anderen, ‚niedrigeren’ Stufen getroffen werden. Macht und Status sind ja schon lange in der Diskussion, können aber immerhin durch, auf besserer Zusammenarbeit basierende, Anerkennung und Reputation ersetzt werden.
Andere Prozesse und Strukturelemente stehen zwar nicht auf der ‚Abschussliste‘, werden aber an neue Positionen verschoben. Klassiker sind Controlling oder HR, die jetzt stärker in die agilen Strukturen eingebunden werden sollten. Ein ‚großes‘ Thema sind auch Planungsprozesse, die zwar größtenteils wegfallen, was aber, da gerade in großen Strukturen der Bedarf entsteht, sich noch intensiver mit den aktuellen und vorhersehbaren Entwicklungen zu befassen, kompensiert wird.
Daneben gibt es noch ein unglaubliche Zahl kleiner (und großer) Artefakte (also systembedingte Fehler), die die aus der Industrialisierung geerbten Strukturen und Modellen noch immer stark belasten und die Arbeit darin erschweren oder behindern, wobei z.B. der CoRE-Canvas dazu dienen kann diese aufzuzeigen und zu beseitigen.
Vieles von dem hier beschriebenen betrifft die Organisationsstruktur und Prozesse. In vielen Unternehmen hängt an diesen Strukturen und Prozessen jedoch das mittlere Management, die bisherigen Gralshüter bürokratischer und meritokratischer Managementmodelle. Hier laufen somit die größten persönlichen ‚Kostenpositionen’ auf. Für die Kollegen auf diesen Ebenen ändert sich am meisten, auch wenn mit einem neuen Zusammenarbeitsmodell deren oft vorhandene fachliche Kompetenz im Wert steigt. Doch neben der fachlichen Expertise sind in agileren Strukturen, mehr als bisher, die zwischenmenschlichen, sozialen Kompetenzen bei all jenen gefordert, die als Entwicklungsunterstützer und Kommunikatoren die entstehenden ‚Communities‘, ‚Kreise’ und Gruppen ‚bedienen’. Überlegungen und Lösungen für neue Führungsmodelle und -strukturen sind damit ein absolutes Muss im Wandlungsprozess.
Und neben all dem?
So, und spätestens jetzt schlägt bei mir das Orga-Begleiter-Herz durch, denn Ja, es entstehen auch Kosten für die Begleitung. Auch wenn es inzwischen viel Literatur zum Thema gibt, man zu jedem Modell alles Mögliche open source (und gerne auch geklaut) öffentlich findet: Menschen, die sich damit auskennen sind noch immer ihr Geld wert. Seien es Agile Coaches, um mit den Teams zu arbeiten oder Agile Supervisor, um auf der Management- und Führungsebene den Boden zu bereiten. Es hilft UND rechnet sich. Genauso, wie es sich rechnet, nicht einfach in das Thema zu starten, sondern die anfangs erwähnte Analyse bewusst und in einem sinnvollen Umfang durchzuführen. Alles andere kostet am Ende sonst das mehrfache.
Und, ja, dass ganze kostet Zeit. Der Logik eines agilen Miteinanders wurden zu viele von uns von Kindesbeinen an beraubt. So zusammenzuarbeiten ist tief in uns verankert, unsere Sozialisierung hat uns allerdings zu Opfern und Tätern (vor allem) der Bürokratie gemacht, was schwer ist hinter sich zu lassen.
Bleibt ein letzter wichtiger Punkt, den ich noch nicht betrachtet habe, nämlich die Frage: Welche Kosten entstehen, wenn man, obwohl es sinnvoll wäre, agile Arbeitsweisen NICHT zulässt oder einführt?
Auch eine Frage, auf der es lohnt herumzukauen. Aber da sind wir dann wieder mitten in der Vorteilsargumemtation und wer die noch nicht verstanden hat, ist gerne eingeladen, sich per PN oder mail bei mir zu melden.
P.S. (Edit 13.08. / 18:11) Weil es gerade so gut passt und aus aktuellem Anlass. Du bist Entscheider und fragst Dich ernsthaft, was Agilität bei Dir im Unternehmen bringen kann und soll? Du stellst Dir die Frage, ob Dein Unternehmen für ein dynamisches und komplexes Umfeld und die Herausforderungen der Zukunft gut aufgestellt ist? Du möchtest herausfinden, ob die Zusammenarbeit im Unternehmen so komplikations- und reibungslos funktioniert, wie Du es brauchst?
Wenn Du testen möchtest, welche Potenziale der Agile Scan in Deinem Unternehmen identifiziert, dann nutze die ‚kleine‘ kostenfreie Demo-Variante, den „Free Agile Scan™“(Einfach bis zum Button „Zugang zum Free Agile Scan“ scrollen und das ‚Kleingedruckte‘ lesen). Das Dauerkopfnicken bei der Durchsprache des Reports garantiere ich.