Mein Tauchkurs ist jetzt fast 20 Jahre her. Seitdem liegt irgendwo in einer Schublade (m)ein Zertifikat, mit dem ich wahrscheinlich noch immer irgendwo auf der Welt eine Tauschbasis finden würde, die mir das notwendige Equipment ausleiht, um mich in eine potenziell lebensgefährliche Situation zu bringen. Ich bin ein guter Schwimmer und Schnorchel auch gerne, aber auf dem Weg weiter unter die Wasseroberfläche könnten mir dann doch ein paar Details entgehen, würde ich das Thema es ganz ohne kompetente Begleitung heute nochmal angehen.
 
Und jetzt meine Frage an die Führungskräfte unter euch? Wann habt ihr euer Führungszertifikat gemacht? Welches Wissen habt ihr dabei erworben? Ist dieses Wissen noch aktuell, passt es zu den aktuellen Entwicklungen und den sich daraus für euer Unternehmen ergebenden Möglichkeiten? Fühlt ihr euch noch wohl damit?
 
Oder habt ihr Führung im Job autodidaktisch gelernt? “Learning by doing“? Vielleicht noch begleitet von einer erfahreneren Kraft oder einem Coach?
 
Was denkt ihr, wieviele Führungskräfte bei ihrer Neuanstellung nach spezifischen Ausbildungen für diese Tätigkeit gefragt werden?
 
Gerade „Führung“ ist ja eh so ein Ding, das man entweder kann, bei dem man sich noch ein paar gute Bücher kauft und dann läufts – oder man lernt es eh nie?! So scheint zumindest vielfach die Meinung zu sein. Womit Führung ein Thema zu sein scheint, bei dem man nichts wirklich erwartet (außer „nachweislicher Führungserfahrung“, wobei, was sagt das über die Qualität und Kompetenz aus und wer führt und prüft überhaupt diesen Nachweis?), weil man ja nur sehr schwer im Vorfeld sagen kann, ob die Führungskraft mit den Menschen in seinem Umfeld so weit harmoniert und kommuniziert, dass nachher tatsächlich alles optimal läuft.
 
Mit fachlichen Ausbildungen und Nachweisen, wird dagegen ganz anders umgegangen.
Fragt sich, was auf den gemeinsamen Erfolg in einem Team und Unternehmen mehr Einfluss hat.
 
Jetzt will ich aber gar nicht über Führungskräfte herziehen. Es geht um uns alle und unseren Umgang mit Lernerfahrungen und deren Nachweis. Der Blick auf die Situation bei Führungskräften hilft allerdings sehr, für meinen eigentlichen Punkt zu sensibilisieren. Wir leben in einer Welt zwischen Microlearning, einer Vielzahl neuen Lernformen, Do-it-Yourself-Angeboten, noch immer großer Zerttifikatsgläubigkeit und zugleich einer unglaublichen Gleichgültigkeit.

Der Nutzen von Zertifikaten jenseits von Basisqualifikationen?

Die Arbeits- aber auch die Lernwelt ist deutlich differenzierten und diffiziler als noch vor 10 Jahren. Mit der Dynamik der Entwicklungen nimmt in beiden Bereichen der Veränderungsstrom weiter Fahrt auf. Was gerade noch als ruhiger Fluss vor sich hin dümpelte lässt die ersten Stromschnellen erkennen. Ich bin gespannt, ob, oder eher wann, wir an einem Wasserfall ankommen.
 
Damit müssen wir in beiden Bereichen – und insbesondere in der Schnittmenge des „Lifelong learning on and for the job“ den Blick heben und uns neu orientieren.
 
Natürlich sind Zertifikate manchmal wichtig. In der letzten Woche habe ich (dennoch) auf Linkedin in die Runde gefragt, welche Erfahrungen meine Follower dort mit „Zertikaten“ bzw. Deren fehlen in unserer, wie ich es empfinde, noch immer sehr zertifikatsgläubigen Welt so gemacht haben. (https://www.linkedin.com/posts/bosbachmobi_wir-sind-ja-ein-extrem-zertifikatsgl%C3%A4ubiges-activity-6606192014948089856-xTRf)
 
Torsten Roman-Jacke hat das wie folgt kommentiert: „Hmmm. in einigen Bereichen, z.B. Gesundheitsbereich – Arzt – ist es mit ganz lieb, wenn jemand eine Ausbildung / Studium / Examen hat. Bei Umgang mit Starkstrom finde ich es auch ok. 😉 Doch ansonsten sind viel Zertifikate und Auszeichnungen das Papier, worauf sie ausgedruckt wurden. Was sagt es über den Menschen aus? Wenig bis gar nichts. Unternehmen sollten bei Bewerbungen die Frage stelle “Wer bist du?” und nicht “Was bist du?”. Damit wäre schon viel gewonnen und gleichzeitig bekommen sie tolle Menschen.“
Guter Punkt!

Worum geht es wirklich?

Was brauchen wir denn von jemand anderem, dessen Wissen, Kompetenz und Fähigkeiten wir noch nicht einschätzen können. Warum vertrauen wir, wie Dank Pink in einem Vortrag dargestellt hat, der 15jährigen aus der Nachbarschaft eher zu auf unsere Kinder aufzupassen, als der diplomierten Erzieherin die gerade erst in die Wohnung nebenan gezogen ist?
 
Es ist einfach: Wir suchen und brauchen für solche Entscheidungen Vertrauen und Sicherheit, dass der Job gut gemacht wird. Wie Markus Ahornen als Kommentar zu meinem Post schreibt: „Wir als Spezies brauchen Beweise, möglichst aus eigener Anschauung. Seit der Steinzeit haben wir gelernt, Aufschneidern und Lügnern nicht zu trauen, weil das Überleben der Art davon abhing. Heute passt das teilweise nicht mehr in die Zeit, weil sich die technische Entwicklung immer stärker von der gesellschaftlichen abkoppelt, aber 200.000 Jahre menschliche Evolution lassen sich nicht so schnell abschütteln. :-)“
 
Was wir also brauchen ist Mut unsere Gewohnheiten bewusst zu überdenken, zu reflektieren, ohne uns selbst dabei zu verurteilen, um so neue Gewohnheiten zu entwickeln. So könnten wir unser Verständnis davon überdenken, was es bedeutet, etwas wirklich zu können – zumindest in Teilbereichen, die sich nicht zu Existenz- oder lebensbedrohlichen Problemen auswachsen können. Das heißt, wir sollten kritischer hinterfragen, was wir (als Individuum und für die Arbeitsorganisation) konkret brauchen und wer diese Kompetenz besitzt oder besitzen kann. Wir brauchen dafür mehr Netzwerk und Zugriff auf persönliche Erfahrungen, auf Referenzen und Feedback. Auf das Erfahrungswissen unseres Umfelds, das oftmals viel genauer Aussage treffen kann, was jemand kann und was nicht – ganz nach Dan Pink also, aber auch einem deutlich höheren Niveau.
 
Dieser Weg führt dazu, dass wir – als Individuen, wie als Teil einer Organisationen – Zugang zu den Fähigkeiten und Kompetenzen von Menschen zu erhalten, die ihr Kopf- und/oder Handwerk beherrschen, ohne dies offiziell nachweisen zu können.
 
Das trifft insbesondere dann zu, wenn es um Themen geht, die man noch gar nicht „offiziell“ gelernt haben kann, weil es noch niemand lehrt, man es aber braucht, weil der Markt schneller ist, als die Lehrangebote?
 
Als jemand, der die neuen Themen in Tiefe analysiert und sich seine eigene Meinung dazu bildet, hat man es da noch vergleichsweise leicht. Solche „Vordenkern“ haben in dem Kontext einfach Narrenfreiheit. Aber, was ist mit den eher stillen, die sich die top-aktuellen Themen anschauen, und Erfahrungen machen? Erfahrungen, deren Qualität zudem niemand beurteilen kann?
 
Damit gewinnt ein anderer Aspekt an Bedeutung: Selbst up-to-date zu bleiben. @Harald Schirmer hat in einem Blogbeitrag versucht dem Mircolearning, also den Versuch immer ein bisschen dranzubleiben und Zeit zu investieren, eine Lanze zu brechen. Ein ungeheuer wichtiges Thema – für alle, nicht nur für die, deren Terminkalender ohnehin immer aus allen Nähten platzt.
 
Was also wäre ein Weg, uns alle hier weiter voranzubringen, Zertifikaten eine „zettelfreies“ Pendant an die Seite zu geben? So schwer ich mich selbst tue, dies umzusetzen (sowohl sie zu schreiben als auch welche anzufragen), so wichtig finde ich Referenzen und Bestätigungen von Fähigkeiten. Jenseits der Möglichkeit sich diese zu kaufen, sind solche Nachweise aus der Crowd ungemein kraftvoll und in der Masse eben auch zumeist verlässlich und ehrlich.
 
Und damit hier mein vorgezogener Weihnachtswunsch (an mich und an euch): Wie wäre es, in der Zeit vor Weihnachten vermehrt Referenzen zu schreiben und auch Linkedin (Xing bietet dies leider nicht an) die Fähigkeiten und Kenntnisse von Kontakten zu bestätigen und jeden Tag (mindestens) eine Empfehlung zu schreiben. Ich bin überzeugt, dass das neue Wege öffnet, Vernetzungen stärkt und nebenbei für neue Impulse zur Problemlösung sorgt. Und ich bin überzeugt, dass wir damit die Basis für eine neue Art der Zusammenarbeit schaffen, für die gemeinsame Arbeit von „powerful people“ and den Themen unserer Zeit. Gemeinsam und um gegenseitigen Bewusstsein unserer Stärken sind wir einfach besser.
 
Vier weitere Ansätze sind mir dazu eingefallen:

  • Erstellt öffentliche Übersichten zu den Themen die euch interessieren mit Hinweisen und Inspirationen, also Buchheims, Videos Podcasts. Alles, was anderen helfen kann, mehr dazu zu erfahren. (Mein Adventskalender funktioniert in diesem Jahr nach einer ähnlichen Logik.
  • Nutzt die Möglichkeiten in Social Media, um eure eigenen Kompetenzen und Fähigkeiten aufzuführen.
  • Gebt anderen Hinweise, welche besonderen Fähigkeiten sie besitzen, die sie als Selbstbild vielleicht gar nicht als so besonders wahrnehmen. (Ich glaube, darin steckt sehr von Potenzial).
  • Und der „aktivste“ Ansatz und anschließend an die obigen beiden Absätze: Bittet andere euch ehrliches Feedback zu geben, wie ihr die Dinge angeht, und was in euch steckt. Idealerweise mit Blick darauf, worin ihr noch besser werden könnt, oder was euch außergewöhnlich gut gelingt. Lasst uns als Netzwerk einfach viel aktiver und offener damit umgehen.

 
Demnächst werde ich mit unseren Kids zum Schnuppertauchen gehen, mit Tauchlehrer und unter Aufsicht versteht sich, damit ich auch wieder beginnen kann. Es ist nie zu spät, Dinge wieder neu zu lernen.