Als ich vor gut 20 Jahren (ich rechne jetzt nicht genau nach) meine Diplomarbeit über „Das Braess Phänomen und Variationsmethoden für Gleichgewichtsprobleme in Netzwerken“ schrieb, hatte ich in mindestens zweifacher Hinsicht keine Ahnung.
 
Erstens ahnte ich noch nicht, dass das Thema Netzwerke auch 20 Jahre später – und vielleicht mehr denn je – eine besondere Relevanz in meinem (Arbeits-)leben spielen würde, und zweitens hatte ich noch viel weniger Ahnung, dass dieses sperrige Thema meiner Diplomarbeit sich dabei so gut einpassen würde.

Vom Stau zum Paradoxon

Das Braess Paradoxon stammt ursprünglich aus der Verkehrsplanung und beschreibt ein im ersten Moment widersprüchlich erscheinendes Strömungsverhalten in Netzwerken. Anschaulich wurde es etwa in Stuttgart, wo 1969 die Eröffnung der Königstraße den Verkehr rund um den Schlossplatz in der Rushhour verschlechterte. Kurz danach wurde der Bereich eine Fußgängerzone und ist es bis heute. Wer mehr erfahren möchte, dem Sie dieser Artikel aus der „Süddeutschen“ empfohlen.

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Schlossplatz in Stuttgart


Vereinfacht gesagt entsteht es, wenn in einem Netzwerk neue Wege eingerichtet werden und in der Folge von mehr Verkehr frequentiert werden, als deren Zubringer verkraften können. Die neue Strecke verursacht so indirekt Verzögerungen und die Gesamtströmung im Netzwerk, die Durchflusskapazität sinkt, obwohl bzw. weil jeder einzelne versucht, seinen Weg durch das Netzwerk zu optimieren.
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Auszug aus Braess Originaldokument vom 28. März 1968

Wo Organisationen „Braes(s)ig“ sind 

Im organisationalen Kontext sind Netzwerke heute vor allem Kommunikationsnetzwerke. Hier fügen wir neue „Kanten“ hinzu, indem wir neue Medien, Social Media Zugänge oder auch neue Wege der direkten Ansprache nutzen. Werden dies zugehörigenKnoten dieser Wege, die Quellen der Information, dann aber so frequentiert, dass sie die Informationen nicht mehr auf den Weg bringen können, dann stockt die Kommunikation, obwohl jeder einzelne einfach „nur“ versucht hat schnellstmöglich an „seine“ Informationen zu gelangen.
 
Dieser „Information Request Overload“ ist symptomatisch für synchrone Kommunikation, für Austausch, an dem mindestens zwei Beteiligte (mehr oder weniger) zeitgleich beteiligt sind. Hier kommt es schnell zur Überlastung.
Es ist aber zunehmend auch da sichtbar, wo wir auch bei asynchroner Kommunikation, in e-mails und Messengern, der Dynamik der Zeit entsprechend, immer schneller Antworten erwarten. Der wahrgenommene Druck diese Antwort an „den einen“ in akzeptabler Zeit zu geben, ist einer der Auslöser hoher psychischer Belastung mit allen bekannten Folgen.
 
Doch wie können wir dieser wachsenden Antwortdruck entgehen? Wir können wir die doch so notwendige Kommunikation über Knoten auf den Weg bringen, die mehr Kapazität besitzen und den Fragestellern dennoch ermöglichen schnelle Antwort zu erhalten?

Zwei Ansätze

Ohne alle Möglichkeiten aufzählen zu wollen und zu können sind zwei Ansätze erfolgversprechend, insbesondere in der Kombination.
 
Zum einen hilft es Wissen und Information von der Beschränkung des Bidirektionalen zu befreien, sie also für viele gleichzeitig, statt nur für Wenige sequenziell verfügbar zu machen. Es geht um zielgerichtete Transparenz, also NICHT darum, jeden mit allem zu bombardieren, sondern die Information so aufzubereiten und anzubieten, dass jeder der sich interessiert das für ihn wichtige Element leicht finden und konsumieren kann.
 
Zum anderen hilft die Ausweitung der Netzwerke, die Stärkung der Anzahl der Verbindungen und der Verbundenheit, um einzelne Wissensträger zu entlasten und die Wissenskaskade auf eine breitere Basis zu stellen. Ganz nebenbei ist das ein Weg um Vertrauen aufzubauen und damit einen der Grundpfeiler besserer Zusammenarbeit gut zu verankern.
 
Für heutige Führungskräfte ist es von besonderer Bedeutung aktiv mit diese Veränderungen anzugehen. Sie profitieren, aufgrund ihrer Ausgangsposition und guten bestehenden Vernetzung,  am meisten davon, wenn sie sich als aktiver Vernetzer und Transparenzschaffer einbringen. Beides steigert die Reputation und Anerkennung über die engen Grenzen der bestehenden Hierarchien hinaus und schafft so eine solide Basis für die Zukunft.

Technologische Helferlein

Wir haben heute bereits viel Technologie, die auf bei diesem Versuch helfen kann, auch wenn es bedeutet, sich von gewohnten Werkzeugen wieder zu verabschieden. e-mails zum Beispiel sind heute zumeist kommunikativer Irrsinn. Andererseits ist es ein wunderbar universell einfaches System, da heute buchstäblich jeder damit umgehen kann und Zugang hat.
Für die Verbreitung von Information sind (Enterprise) Social Media, das sehen wir im Privatleben, deutlich besser geeignet, da sie zum Beispiel auch erlauben, transparent das eigene Wissen dem laufenden „Gespräch“ hinzuzufügen. Allerdings sind hier „plötzlich“ ganz andere Verhaltensmuster gefragt.
 
Heute bietet eine unglaubliche und stetig wachsende Zahl von Collaborationtools Ansätze für jede Problemstellung und jede Anwendergruppe. Und zugleich müssen fast alle der dann neu Beteiligten sich umgewöhnen, da durch die Vielzahl selten alle Beteiligten die Funktionen und die Bedienungsform, die das neue Tool im Unternehmen erwartet, bereits kennt. Das eine universelle Tool, dass bezüglich des Funktionsumfangs und der Bedienbarkeit für jeden schnell erlern- und verstehbar die Arbeit sofort erleichtert, gibt es (zumindest soweit mir bekannt) noch nicht.
 
Und doch kommen wir an dem Wechsel, am Neudenken von Kommunikation in Unternehmen nicht vorbei. Wir müssen den Schritt gehen, uns mehr Last aufladen und neues lernen, um uns mittelfristig zu entlasten.

Meine Tipps

  • Um Im Netzwerk nicht zu scheitern sind große Netzwerke wichtig – allerdings, machen Sie sich klar, wer welche Kompetenzen besitzt, wer Sie in welchem Bereich weiterbringen kann.
  • Netzwerken Sie auch ganz analog. Ein aktuell sehr beliebter Ansatz, der zugleich die Kompetenzwahrnehmung verbessert ist „Working out Loud“ (#WOL), bei dem Sie sich in kleinen Gruppen zusammentun und gemeinsam, und doch jeder für sich, das Netzwerk erweitern.
  • Vernetzen sie andere, wo immer Sie selbst zwar angefragt wurden, die Information aber nicht haben. Ein kommunikatives Bolltleneck zu sein, war früher hilfreich um die eigene Position zu sichern. Heute ist es das Gegenteil der Fall.
  • Lernen Sie „Nein“ zu sagen und auf andere Netzwerkpartner zu verweisen. Zusammenarbeit bedeutet auch zusammen zu arbeiten und sich die Aufgaben zu teilen.
  • Öffnen Sie sich dafür, verschiedene (technologische) Tools in verschiedenen Netzwerken auszuprobieren. Hören Sie auf ihr Umfeld. Ein Netzwerktool ist immer nur so gut, wie dessen Akzeptanz durch die Nutzer. Am Ende hilft es nichts, wenn Sie es alleine nutzen. Auch hier sind (heute noch) Kompromisse notwendig.

Und noch ein Lesetipp für (Top-)Führungskräfte: „What managers need to know about social tools“ aus dem Harvard Business Review.
 
Auch wenn die technologische Seite solcher Lösungen (nur noch) zum Randbereich meines Kerngeschäfts gehört, sind sie wesentlichen Bestandteile der Entwicklung von Unternehmen zu einer erfolgreicheren Zusammenarbeit. Einer Zusammenarbeit die bessere Ergebnisse liefert, weil sie mehr Beteiligung und Begeisterung ermöglicht. Einfach der smartere und zeitgemäßere Weg zu mehr Erfolg.
 
Wenn Sie daran in Ihrer Organisation arbeiten möchten, dann sollten wir ins Gespräch kommen. Vielleicht, für den Anfang, auch ganz altmodisch per mail. Herr Braess hätte sicher nichts dagegen.